Viertes Interview der Reihe „Schul­ab­sen­tismus begegnen – aber wie?!“

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Viertes Interview der Reihe „Schul­ab­sen­tismus begegnen – aber wie?!“

Um ihren Weg zurück ins Bil­dungs­system oder zu anderen Formen der Bildung zu finden, benö­tigen Kinder und Jugend­liche indi­vi­duelle, bezie­hungs­ori­en­tierte Unter­stützung, wenn sie länger der Schule fern­bleiben. In unserer Inter­view­reihe „Schul­ab­sen­tismus begegnen – aber wie?!“ wird daher monatlich ein aus­ge­wähltes Pra­xis­bei­spiel aus der Jugend­so­zi­al­arbeit vor­ge­stellt. Fach­kräfte der ein­zelnen Angebote geben Ein­blick in ihre Arbeit und zeigen Her­aus­for­de­rungen sowie die aus ihrer Sicht maß­geb­lichen Gelin­gens­be­din­gungen auf. Die Gesprächspartner*innen sind Teil­neh­mende des Pro­jektes „Schule – ohne mich!? Neue Ent­wick­lungen und Hand­lungs­an­for­de­rungen bei Schul­ab­sen­tismus“ von IN VIA Deutschland im Netzwerk der Bun­des­ar­beits­ge­mein­schaft Katho­lische Jugendsozialarbeit.

Für diese Ausgabe der Inter­view­reihe sprach Claudia Al-​Nahawi vom Sozi­al­kri­ti­schen Arbeits­kreis Darm­stadt e. V. mit den Jugend­so­zi­al­arbeit News.

Wie zeigt sich das Phä­nomen Schul­ab­sen­tismus in Ihrer Region?

Claudia Al-​Nahawi: Schul­ab­sen­tismus zeigt sich in unter­schied­lichen Facetten. Im ein­deu­tigsten Fall bleiben Kinder und Jugend­liche über Wochen oder Monate hinweg der Schule fern und es fällt schwer, einen Zugang zu ihnen zu finden. Wichtig ist aber, schon deutlich früher auf die weniger offen­sicht­lichen Phä­nomene von Schul­ab­sen­tismus auf­merksam zu werden: Kinder, die sich häufig wegen Bauch­schmerzen o. ä. abholen lassen. Kinder und Jugend­liche, die zwar phy­sisch anwesend, jedoch psy­chisch völlig abwesend sind. Soziale Aus­grenzung, die zu Rückzug führt. Längere und häu­figere Krank­heits­phasen. All das und noch viel mehr sind eben­falls erste Anzeichen und Erschei­nungs­formen von Schul­ab­sen­tismus. Wenn wir hierauf auf­merksam werden und genau da ansetzen, haben wir jedoch noch deutlich größere Chancen, einem dau­er­haften Fern­bleiben vorzubeugen.

Wo setzt Ihr Projekt bzw. Ihr Angebot an?

Claudia Al-​Nahawi: Als Schul­so­zi­al­arbeit ver­suchen wir, genau das zu tun: dau­er­haftem Fern­bleiben früh­zeitig vor­beugen. Wir nutzen hierfür prä­ventive wie auch inter­ve­nie­rende Ansätze sowie eine enge, belastbare und ver­trau­ens­volle Bezie­hungs­arbeit. Mit unseren sozialen Grup­pen­an­ge­boten im Klas­sen­verband ver­suchen wir, die Klas­sen­ge­mein­schaft zu stärken, sodass jede*r Ein­zelne wichtig für die Gruppe und die Gruppe wichtig für jede*n Einzelne*n wird. Wir unter­stützen die Kinder und Jugend­lichen darin, auf­ein­ander acht­zu­geben, respektvoll mit­ein­ander umzu­gehen und sich gegen­seitig zu unter­stützen – bes­ten­falls auch klas­sen­über­greifend in der ganzen Schulgemeinschaft.

Durch par­ti­zi­pative Ansätze möchten wir einer Ent­fremdung der ein­zelnen Kinder und Jugend­lichen von der Schule ent­ge­gen­wirken. Schule soll zu einem Ort werden, der etwas mit mir zu tun hat, an dem ich kein*e passive*r Konsument*in sondern aktive*r Gestalter*in bin.
Mobbing und Dis­kri­mi­nie­rungen sind neben inner­fa­mi­liären Krisen häufige Ursachen von Schul­ab­sen­tismus. Wir sind geschult in Mob­bing­in­ter­vention und arbeiten regel­mäßig an einer dis­kri­mi­nie­rungs­sen­siblen Haltung, um recht­zeitig und pro­fes­sionell auf solche Situa­tionen reagieren zu können.

Darüber hinaus legen wir großen Wert auf die Bezie­hungs­arbeit. Wir ver­suchen, mög­lichst viele unserer zeit­lichen Res­sourcen direkt am Standort Schule ein­zu­setzen, um Kon­takte auf­zu­bauen und zu pflegen, um präsent und ansprechbar zu sein. Durch die Beziehung zu uns sowie durch die darauf ent­ste­hende Mög­lichkeit zur Fall­arbeit, auch mit den Familien, lässt sich dau­er­haftes Fern­bleiben bes­ten­falls vor­beugen. Gleich­zeitig pflegen wir ein gutes Netzwerk im Sozi­alraum, um auch diese Res­sourcen zu nutzen.

Was gelingt aus Ihrer Sicht besonders gut? 

Claudia Al-​Nahawi: Die Schul­so­zi­al­arbeit hat den rie­sigen Vorteil, dass sie zwar unmit­telbar im System Schule agiert und vor Ort greifbar ist, gleich­zeitig aber nicht zum System Schule gehört. Wir sind nicht die­je­nigen, die Leis­tungen bewerten, die sank­tio­nieren oder auch als nen­nenswert betrach­tetes Ver­halten aus­zeichnen, die in die Schüler*innenakten ein­tragen, die mit einer (Schul-)Pflicht arbeiten und die – unge­fragt – Eltern­ge­spräche führen. Dass Schule all das tut und teil­weise auch tun muss, soll an dieser Stelle gar nicht bewertet oder gar abge­wertet werden, denn darum geht es nicht. Es geht darum, dass diese Dinge etwas in den Kindern und Jugend­lichen aus­lösen und die sys­tem­im­ma­nenten Per­sonen in der Folge oft keine Ansprech­per­sonen sein können. Eine*r Schulsozialarbeiter*in hin­gegen unter­liegt der Schwei­ge­pflicht. Unsere Angebote sind frei­willig, wir arbeiten an den Res­sourcen ori­en­tiert und bewerten in der Regel nicht. Das bietet eine dankbare Grundlage für eine wichtige Ver­trau­en­s­ebene. Selbst­ver­ständlich ver­suchen wir, den schul­ab­senten Kindern und Jugend­lichen ein posi­ti­veres Bild von Schule zu zeichnen, denn nicht selten ist ihre Per­spektive aus nega­tiven Erfah­rungs­werten heraus recht ein­ge­schränkt. Wir arbeiten dann eng mit den Schulen zusammen, um zu schauen, wie wir gemeinsam die Hürden senken können, die sich für die Kinder und Jugend­lichen auf­getan haben.

Auch in der Zusam­men­arbeit mit den Eltern hilft uns diese Position. Wenn das Fern­bleiben seine Ursache in defi­zi­tären, kri­sen­be­las­teten Situa­tionen eines Eltern­teils hat und ein Kind /​ein*e Jugendliche*r bei­spiels­weise das Gefühl hat, sich kümmern zu müssen oder das Elternteil derzeit nicht dazu in der Lage ist, das Kind für die Schule „fertig zu machen“, dann ist diese Situation häufig von hoher Scham begleitet. Den Ver­ant­wort­lichen in der Schule in diese per­sön­liche Krise Ein­blick zu gewähren, ist für viele kaum denkbar. Schul­so­zi­al­arbeit hat da auch nicht oft Erfolg, aber durch die beschriebene neu­trale Stellung doch manchmal Optionen.

Welche Her­aus­for­de­rungen zeigen sich?

Claudia Al-​Nahawi: Die größte Her­aus­for­derung für uns ist, über­haupt etwas von den ersten Warn­zeichen von Schul­ab­sen­tismus mit­zu­be­kommen. Das Ver­hältnis von Voll­zeit­äqui­va­lenten zu Schüler*innenzahlen ist so gering, dass es unmöglich ist, eigen­ständig in allen Klassen mit­zu­be­kommen, wenn sich Schul­ab­sen­tismus anbahnt oder gar bereits vor­handen ist. Insofern sind wir darauf ange­wiesen, dass die Lehr­kräfte uns recht­zeitig invol­vieren. Das wie­derum setzt voraus, dass Anwe­sen­heits­listen geführt und vor allem eva­luiert werden, und dass auf­fäl­liges Ver­halten – nicht im Sinne von stö­rendem Ver­halten, sondern eher im Gegenteil, im Sinne von Rückzug – beob­achtet und uns mit­ge­teilt wird. Das ist leider eher unre­gel­mäßig der Fall. Die Ursachen mögen hier viel­fältig und unter­schiedlich sein und reichen ver­mutlich von man­gelnden zeit­lichen Res­sourcen auf Lehr­kräf­te­seite hin zu unzu­rei­chenden Kennt­nissen über Schul­ab­sen­tismus. Wir benö­tigen daher viele struk­tu­relle Ant­worten: Schul­so­zi­al­arbeit kann immer nur so viel leisten, wie ihr Res­sourcen zur Ver­fügung stehen. Gleiches gilt für Lehr­kräfte: Ohne Dop­pel­be­set­zungen fehlt oft die Option, beob­achten zu können und päd­ago­gisch zu inter­ve­nieren. Wir sind schon deutlich besser geworden in mul­ti­pro­fes­sio­neller Zusam­men­arbeit am Standort Schule, dennoch gibt es auch hier noch viel Luft nach oben – sowohl in der Praxis als auch in der poli­ti­schen Verwaltung.

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