Inter­view­reihe „Schul­ab­sen­tismus begegnen – aber wie?!“

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Inter­view­reihe „Schul­ab­sen­tismus begegnen – aber wie?!“

Die Zahl der Kinder und Jugend­lichen, die der Schule fern­bleiben, ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Aktuelle Studien zeigen, dass es sich bei Schul­ab­sen­tismus um ein viel­schich­tiges Phä­nomen handelt, das durch eine Vielzahl unter­schied­licher, teils mit­ein­ander ver­knüpfter Fak­toren bedingt und auf­recht­erhalten wird. Sowohl im Bil­dungs­be­reich als auch in der Sozialen Arbeit, vor allem in der schul­be­zo­genen Jugend­so­zi­al­arbeit und Schul­so­zi­al­arbeit, exis­tiert eine Vielzahl an bewährten Kon­zepten und Bei­spielen zum Umgang mit Schul­ab­sen­tismus – jedoch nicht flä­chen­de­ckend an allen Schulen. Aller­dings fehlt ein Über­blick an eben jenen guten Bei­spielen und Ange­boten als Ori­en­tierung in der Prä­vention von und Inter­vention bei Schulabsentismus.

Die Inter­view­reihe „Schul­ab­sen­tismus begegnen – aber wie?!“ möchte dem ent­ge­gen­wirken: Monatlich wird ein aus­ge­wähltes Pra­xis­bei­spiel aus der Jugend­so­zi­al­arbeit vor­ge­stellt. Im Mit­tel­punkt stehen dabei Pro­jekte und Maß­nahmen, die junge Men­schen indi­vi­duell begleiten und sie darin unter­stützen, ihren Weg zurück ins Bil­dungs­system oder gege­be­nen­falls einen alter­na­tiven Bil­dungsweg zu finden – mit dem Ziel, ihnen gesell­schaft­liche Teilhabe (wieder) zu ermög­lichen. Fach­kräfte der ein­zelnen Angebote geben Ein­blick in ihre Arbeit und zeigen Her­aus­for­de­rungen sowie die aus ihrer Sicht maß­geb­lichen Gelin­gens­be­din­gungen auf. Die Gesprächspartner*innen sind Teil­neh­mende des Pro­jektes „Schule – ohne mich!? Neue Ent­wick­lungen und Hand­lungs­an­for­de­rungen bei Schul­ab­sen­tismus“ von IN VIA Deutschland im Netzwerk der Bun­des­ar­beits­ge­mein­schaft Katho­lische Jugendsozialarbeit.

Für diese Ausgabe der Inter­view­reihe sprach Lierin Hanika vom Projekt Oktopus der Caritas Ludwigsburg-​Waiblingen-​Enz mit den Jugend­so­zi­al­arbeit News.

Wie zeigt sich das Phä­nomen Schul­ab­sen­tismus in Ihrer Region?

Lierin Hanika: Das Thema Schul­ab­sen­tismus tritt im Land­kreis Lud­wigsburg in unter­schied­lichsten Facetten auf. Anhand interner Pro­jekt­sta­tistik ergibt sich bei allen erfassten schul­a­ver­siven Schüler*innen eine Ver­teilung von ca. 76 % Schüler*innen mit einer Schulangst/​Ver­mei­dungs­sym­pto­matik, 33 % latente Fehlzeiten/​Schwänzen, 18 % passive Unter­richts­ver­meidung und 21 % aktives Stör­ver­halten im Unter­richt. Als mög­liche Folge kann es zu Schul­aus­schlüssen oder gar Schul­ab­brüchen kommen.

Wo setzt Ihr Projekt bzw. Ihr Angebot an?

Lierin Hanika: Das Projekt Oktopus setzt direkt bei den betrof­fenen Kindern und deren Ange­hö­rigen an. Hierfür wird das Fami­li­en­system besonders berück­sichtigt, wodurch die im Tandem statt­fin­dende Eltern­arbeit eine große Rolle in der Beratung spielt. Die spe­zi­fi­schen Anliegen und Bedürf­nisse der Betrof­fenen werden zunächst erfasst und indi­vi­duelle kurz- bis lang­fristige Unter­stüt­zungs­mög­lich­keiten erarbeitet.

Eltern und Ange­hörige sollen gezielt in ihrer Kom­petenz und Hand­lungs­fä­higkeit gestärkt werden, um eine halt­ge­bende Struktur für die betrof­fenen Kinder und Jugend­liche schaffen zu können. Gleich­zeitig werden die jungen Men­schen anhand res­sour­cen­ori­en­tierter Ein­zel­fall­hilfe in ihrer Selbst­wirk­samkeit gestärkt. Hierbei werden außer­schu­lische Erfolgs­er­leb­nisse initiiert oder gefördert, damit die Betrof­fenen von dieser auch bei schu­li­schen Her­aus­for­de­rungen pro­fi­tieren können. Ziel ist neben der (Wieder-) Her­stellung des psy­cho­so­zialen Wohl­be­findens vor allem das Finden eines adäquaten Lern­ortes, die Sta­bi­li­sierung des Schul­be­suchs und ggf. das Erreichen eines Bildungsabschlusses.

Neben den betrof­fenen jungen Men­schen und Ange­hö­rigen setzt das Projekt seit Januar 2025 auch gezielt bei den Fach­kräften an, um dem Thema Schul­ab­sen­tismus prä­ventiv ent­ge­gen­zu­wirken. Hierfür werden neben tele­fo­ni­schen Bera­tungen explizit kol­le­giale Fall­be­ra­tungen für betroffene Fach­kräfte ange­boten, damit diese in ihrer prak­ti­schen Arbeit direkt erste Hand­lungs­ideen umsetzen können. Zudem erreicht das Projekt anhand von Fach­vor­trägen und Fach­tagen ein breites Publikum, um für das Thema zu sensibilisieren.

Was gelingt aus Ihrer Sicht besonders gut? 

Lierin Hanika: Auf der Basis der ein­jäh­rigen Betreu­ungszeit gelingt es bei aktiver Mit­wirkung, eine wert­schät­zende und trag­fähige Arbeits­be­ziehung zur Kli­entel auf­zu­bauen. Anhand dieser können Sys­tem­hemm­nisse abgebaut und die Betrof­fenen in andere Hilfs­systeme über­führt und begleitet werden. Dank jah­re­langer Fach­ex­pertise und Netz­werk­tä­tigkeit gelingt dem Projekt eine gewinn­brin­gende Zusam­men­arbeit sowohl im klinisch-​psychiatrischen Bereich als auch mit der Jugend­hilfe. Dadurch ist eine Vor- und Nach­be­treuung, auf­su­chende Begleitung, sowie eng ver­zahnte Zusam­men­arbeit möglich.

Welche Her­aus­for­de­rungen zeigen sich?

Lierin Hanika: Her­aus­for­de­rungen ergeben sich bei­spiels­weise daraus, dass wir nicht alle betrof­fenen Ziel­gruppen erreichen können, wodurch Grund­schulen und Berufs­schulen im Land­kreis leider unver­sorgt bleiben. Das Interesse und der Bedarf an Maß­nahmen wie Oktopus hat in den letzten Jahren stark zuge­nommen. Dies machen wir daran fest, dass wir 2023 zum ersten Mal eine War­te­liste ein­führten, welche wir teil­weise sogar schließen mussten, da die Fall­an­fragen die Kapa­zität über­schritten. Wir führen dies auf mul­ti­kom­plexe Pro­blem­lagen mit einem ein­her­ge­henden Zuwachs an psy­chi­schen Erkran­kungen und Zukunfts­ängsten zurück.

Nicht uner­wähnt soll an dieser Stelle bleiben, dass unser Projekt das einzige in dieser Form im Land­kreis Lud­wigsburg ist. Wir sind dankbar für die För­derung durch den Euro­päi­schen Sozi­al­fonds (ESF). Gleich­zeitig bemühen wir uns jetzt schon um alter­native För­der­mög­lich­keiten, die unserem Projekt eine lang­fristige und aus­kömm­liche Plan­barkeit ermög­lichen, sollte die För­derung des ESF auslaufen.

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