Inter­view­reihe „Schul­ab­sen­tismus begegnen – aber wie?!“

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Inter­view­reihe „Schul­ab­sen­tismus begegnen – aber wie?!“

Im Rahmen unserer Inter­view­reihe „Schul­ab­sen­tismus begegnen – aber wie?!“ wird monatlich ein aus­ge­wähltes Pra­xis­bei­spiel aus der Jugend­so­zi­al­arbeit vor­ge­stellt. Fach­kräfte der ein­zelnen Angebote geben Ein­blick in ihre Arbeit und zeigen Her­aus­for­de­rungen sowie die aus ihrer Sicht maß­geb­lichen Gelin­gens­be­din­gungen auf. Im Mit­tel­punkt stehen dabei Pro­jekte und Maß­nahmen, die junge Men­schen indi­vi­duell begleiten und sie darin unter­stützen, ihren Weg zurück ins Bil­dungs­system oder gege­be­nen­falls einen alter­na­tiven Bil­dungsweg zu finden – mit dem Ziel, ihnen gesell­schaft­liche Teilhabe (wieder) zu ermög­lichen. Die Gesprächspartner*innen sind Teil­neh­mende des Pro­jektes „Schule – ohne mich!? Neue Ent­wick­lungen und Hand­lungs­an­for­de­rungen bei Schul­ab­sen­tismus“ von IN VIA Deutschland im Netzwerk der Bun­des­ar­beits­ge­mein­schaft Katho­lische Jugendsozialarbeit.

Für diese Ausgabe der Inter­view­reihe sprach Katrin Dreher (TRIAS Koor­di­na­torin Regionen Herrenberg/​Gäu /​Schönbuch /​Stadt Leonberg und Renn­ingen) von der Waldhaus Jugend­hilfe mit den Jugend­so­zi­al­arbeit News.

Wie zeigt sich das Phä­nomen Schul­ab­sen­tismus in Ihrer Region?

Katrin Dreher: Schul­ab­sen­tismus – das unent­schul­digte Fehlen im Schul­un­ter­richt – ist ein Phä­nomen, das in den letzten Jahren stetig zuge­nommen hat und mitt­ler­weile zu einem gesamt­ge­sell­schaft­lichen Problem geworden ist. Eine Daten­aus­wertung des SWR Data Lab zeigt, dass im Land­kreis Böb­lingen 8,3 Prozent der über 15-​Jährigen im Jahr 2022 keinen Schul­ab­schluss erreicht haben (26.920 Per­sonen). Im Ver­gleich dazu liegt der Bun­des­durch­schnitt bei 6,9 Prozent. In Baden-​Württemberg haben 7,7 Prozent der Schüler*innen über 15 Jahre keinen all­ge­mein­bil­denden Schul­ab­schluss. Ursachen von schul­a­ver­siven Ver­halten sind vor allem psy­chische Stö­rungen, Über­for­de­rungs­si­tua­tionen sowohl der Schüler und Schü­le­rinnen selbst als auch ihrer Eltern, und Trennungsängste.

Bereits im Auf­nah­me­ge­spräch geben mitt­ler­weile ca. 67 Prozent der Kinder und Jugend­lichen an, ver­schiedene Ängste in der Schule zu haben. Die Ängste beein­träch­tigen die Kinder und Jugend­liche teil­weise so stark, dass ein Schul­besuch nicht mehr oder nur ein­ge­schränkt an bestimmten Tagen möglich ist. Auf­grund dieser starken Angst­the­matik, welche oftmals mit depres­siven Ver­stim­mungen ver­bunden ist, ist die Ver­weil­dauer bei TRIAS deutlich gestiegen. Wege aus der Angst zu finden und die betrof­fenen Kinder und Jugend­lichen anschließend zu sta­bi­li­sieren und zu reinte­grieren, bedeutet einen langen, sowie hohen Betreu­ungs­aufwand. Durch lange War­te­zeiten in der PIA (Psych­ia­trische Insti­tuts­am­bulanz), bei Therapeut*innen, bei Psychiater*innen, bei Bera­tungs­stellen und auch bei den HzE-​Maßnahmen (Hilfen zur Erziehung) des Jugend­amtes, über­brücken wir im Rahmen von TRIAS diese War­te­zeiten und sind in dieser Zeit oftmals die einzige Unter­stützung für die Familien.

Durch die auf­su­chende Tätigkeit ist es möglich die Kinder und Jugend­lichen, die unter psy­chi­schen Pro­blemen leiden, nicht noch zusätzlich durch weite Wege zu belasten. Auch die in der Ver­gan­genheit auf­ge­baute sehr gute Koope­ration mit den Mitarbeiter*innen der Kinder- und Jugend­psych­iatrie Böb­lingen und der schul­psy­cho­lo­gi­schen Bera­tungs­stelle erleichtert und beschleunigt die Dia­gnostik, von der im Vorfeld die Eltern, wie auch die Schüler*innen, oft erst noch über­zeugt werden müssen. Dies kann nur durch eine enge und ver­trau­ens­volle Zusam­men­arbeit mit den Teilnehmer*innen und deren Eltern erreicht werden.

Bin­dungs­the­ma­tiken und Ablö­sungs­pro­zesse von den Eltern sind vor allem bei Schü­le­rinnen und Schülern in der Grund­schule ein vor­ran­giges Thema. Auch psy­chisch erkrankte Eltern bedürfen unserer großen Auf­merk­samkeit und Unter­stützung bei der Bewäl­tigung des Alltags.

Wo setzt Ihr Projekt bzw. Ihr Angebot an?

Katrin Dreher: Das Projekt TRIAS widmet sich als Angebot der Kinder- und Jugend­hilfe der sozi­al­päd­ago­gi­schen Begleitung von Schü­le­rinnen und Schülern, die die Schule trotz gel­tender Schul­pflicht nicht mehr besuchen. Der Name TRIAS leitet sich aus der Drei­er­be­ziehung (von grie­chisch triádos = Dreiheit) zwi­schen Familie, Schule und Jugend­hilfe ab.

TRIAS wird von drei freien Trägern der Jugend­hilfe im gesamten Land­kreis Böb­lingen umge­setzt. Die Stiftung Jugend­hilfe aktiv ist für die Schulen der Region Stadt Böb­lingen, Ehn­ingen, Dagersheim und Aid­lingen zuständig. Mevesta e.V. für die Schulen der Region Sin­del­fingen, Weil der Stadt, Rutesheim und Weissach. Die Waldhaus gGmbH, für die ich tätig bin, ist Ansprech­partner für die Schulen der Region Her­renberg, Gäu, Schönbuch, der Stadt Leonberg und Renningen.

Das Projekt TRIAS ver­steht sich als Ergänzung zu den Ange­boten und Auf­gaben der Schul­so­zi­al­arbeit und der Jugend­hilfe des Jugend­amtes. Wenn die Not­wen­digkeit für eine intensive Ein­zel­fall­hilfe gegeben ist und die Mög­lich­keiten der Schul­so­zi­al­arbeit erschöpft sind, kann TRIAS weitere Unter­stützung anbieten. Es können durch die Mit­ar­bei­tenden von TRIAS nur Kinder und Jugend­liche unter­stützt werden, die eine Schule im Land­kreis Böb­lingen besuchen und auch im Land­kreis wohnhaft sind. Ziel der Begleitung durch TRIAS ist die Reinte­gration der Schü­lerin bzw. des Schülers in den Regel­be­trieb der Schule.

In enger Koope­ration mit den Schulen, der Schul­so­zi­al­arbeit und – bei Bedarf – mit dem Jugendamt Böb­lingen, ent­wi­ckelt TRIAS indi­vi­duelle Unter­stüt­zungs­an­gebote für die Schüler*innen und ihre Eltern. Zudem koope­riert TRIAS eng mit wei­teren Netz­werk­partnern des Land­kreises Böb­lingen. Zu diesen gehören u. a. das Schulamt, die schul­psy­cho­lo­gische Bera­tungs­stelle, Kinder- und Jugendpsychotherapeut*innen, die Kinder- und Jugend­psych­iatrie mit kin­der­psych­ia­tri­scher Tages­klinik, die Polizei, die psy­cho­lo­gi­schen Bera­tungs­stellen, und der Soziale Dienst des Jugend­amtes. Das Ziel dabei ist immer die stabile Reinte­gration in die Her­kunfts­schule. Das kann auch eine gemeinsame, fach­über­grei­fende Kri­sen­in­ter­vention, um einen Schul­aus­schluss bzw. wei­teren Abbruch des Schul­be­suchs zu ver­hindern. Die Über­führung in eine bedarfs­an­ge­messene weitere Unter­stützung, die zur Sta­bi­li­sierung der indi­vi­du­ellen Lebenslage bei­trägt, kann ggf. ein anderes Ziel der Begleitung sein. Wenn eine Reinte­gration in den Regel­be­trieb nicht möglich ist, da zunächst ein spe­zi­el­lerer Unter­stüt­zungs­bedarf vor­handen ist und andere belas­tende Themen im Vor­der­grund stehen, ist der Anschluss an diese wei­teren Unter­stüt­zungs­systeme pri­märes Ziel der Begleitung. In diesem Fall sind ins­be­sondere die Ver­mittlung an den medizinisch-​therapeutischen Bereich und/​oder inten­siv­päd­ago­gische Maß­nahmen (z. B. sta­tionäre Unter­stützung im Rahmen der Jugend­hilfe) zu erwägen.

Inhalte und Methoden:

  • Sozi­al­päd­ago­gische Ein­zel­be­treuung der Schü­le­rinnen und Schüler und schu­lische För­der­an­gebote, um ent­standene Lücken zu schließen.
  • Beratung und Unter­stützung der Eltern in der För­derung der/​des betrof­fenen Schülerin/​Schülers und in der Koope­ration mit den Schulen, sowie bei Bedarf zu wei­teren Unter­stüt­zungs­mög­lich­keiten im Netzwerk (s. o.). Dazu hat sich bereits im Jahr 2008 ein Arbeits­kreis u. a. aus Ver­tretern des Jugend­amtes, des staat­lichen Schul­amtes, der freien und städ­ti­schen Jugend­hil­fe­träger, der Polizei und des Gesund­heits­amtes sowie der Kinder- und Jugend­psych­iatrie und der Schul­psy­cho­lo­gi­schen Bera­tungs­stelle gebildet.
  • Auf­su­chende Arbeit durch TRIAS-Mitarbeiter*innen: Schüler*innen werden auch zuhause und/​oder in der Schule besucht, um ein gutes Ver­trau­ens­ver­hältnis auf­zu­bauen, auf­recht zu erhalten und direkt vor Ort agieren zu können.
  • Enge Koope­ration mit den Lehr­kräften und Schulsozialarbeiter*innen der betei­ligten Schulen sowie wei­teren Netzwerkpartner*innen.
  • Es erfolgt in jedem Fall eine klein­schrittige, ange­messene Ziel­ver­ein­barung zusammen mit den Schüler*innen, in denen kurz­fristig zu errei­chende Ziele schriftlich fest­ge­halten werden, bspw. durch fest­ge­legte Nach­hol­zeiten des ver­passten Unter­richts­stoffes zuhause, Ter­min­ver­ein­barung mit koope­rie­renden Insti­tu­tionen, Erstellung eines Tages/​Wochenplans, etc.
  • Falls not­wendig, findet eine schnelle Kri­sen­in­ter­vention vor Ort statt, ggf. auch mit kin­der­psych­ia­tri­scher Unter­stützung oder als Schutz­maß­nahme des Jugendamtes.
  • Wenn die Unter­stüt­zungs­mög­lich­keiten durch TRIAS nicht aus­rei­chend sind, wird eine Koope­ration mit dem Jugendamt ange­strebt, um weitere Hilfen anbieten zu können.
  • Falls eine Jugend­hil­fe­maß­nahme instal­liert ist oder wird, nimmt TRIAS in Absprache mit dem Sozialen Dienst auch an Hil­fe­plan­ge­sprächen
  • Die Beratung anderer Insti­tu­tionen zum Thema Schul­ab­sen­tismus im Ein­zelfall (Bera­tungs­stellen, Sozialer Dienst, Hilfen zur Erziehung, u. a.) ist eben­falls Bestandteil der Aufgabe von TRIAS.

Was gelingt aus Ihrer Sicht besonders gut?

Katrin Dreher: Der Zugang erfolgt nie­der­schwellig direkt über die Schule, die Schulsozialarbeiter*innen, die Eltern, Netzwerkpartner*innen oder die betrof­fenen Schülerinnen/​Schüler selbst. Alle können uns mit ihren Anliegen direkt kontaktieren.

Für den for­malen Zugang zum Projekt muss eine unter­schriebene Ein­ver­ständ­nis­er­klärung der Teilnehmerin/​des Teil­nehmers und eine unter­schriebene Daten­schutz­er­klärung vorliegen.

Die Umsetzung des TRIAS-​Konzepts durch die freien Träger der Jugend­hilfe ermög­licht einen sehr nie­der­schwel­ligen Zugang und eine zeitnahe Inter­vention. Die TRIAS-​durchführenden Träger arbeiten seit Jahren in einem ein­zel­fall­un­ab­hän­gigen fach­lichen Netzwerk – dem Arbeits­kreis Schul­ab­sen­tismus – mit wei­teren Kooperationspartner*innen zusammen, um grund­sätzlich die Qua­lität des Angebots zu sichern und bedarfs­ge­recht wei­ter­zu­ent­wi­ckeln. Durch eine enge regionale Koope­ration mit den Akteur*innen aus der Jugend­arbeit und der Schul­so­zi­al­arbeit an den Schulen ist es schnell möglich, mit Eltern und Schüler*innen eine gute und pas­sende Unter­stützung zu ent­wi­ckeln. TRIAS ist eine optimale Ein­zel­fall­hilfe in enger Koope­ration zwi­schen Schule, Schul­so­zi­al­arbeit, Eltern, Schüler*innen und bei Bedarf mit der Jugend­hilfe. Die Erfolgs­quote der Arbeit von TRIAS liegt bei rund 95 Prozent. Nur in sehr wenigen Ein­zel­fällen werden keine hin­läng­lichen Fort­schritte erreicht.

Welche Her­aus­for­de­rungen zeigen sich?

Katrin Dreher: Im Rahmen der Corona-​Pandemie haben ver­mehrt Eltern einen Schul­besuch ihres Kindes unter­laufen bzw. gar ver­hindert. In diesen Fällen hat die Eltern­arbeit einen zuneh­menden Stel­lenwert im Betreu­ungs­system ein­ge­nommen, was sich auch in der Dia­gnostik und Behandlung der Klinik für Kinder- und Jugend­psych­iatrie und ‑psy­cho­the­rapie (mit Psych­ia­tri­scher Insti­tuts­am­bulanz (PIA), Tages­klinik sowie sta­tio­närem Bereich) wider­spiegelt. So sind Kinder/​Jugendliche wesentlich häu­figer Symptomträger*in labiler Fami­li­en­systeme und kon­flikt­be­las­teter Eltern, die dann die eigent­lichen Ziel­per­sonen der Unter­stüt­zungs­systeme sein müssten. An dieser Stelle wird deutlich, dass die Behandlung von Schul­ab­sen­tismus nur im koope­ra­tiven Zusam­men­wirken unter­schied­licher Fach­dis­zi­plinen gelingen kann und im Wortsinn not-​wendig ist. Die Gefahr einer Krank­heits­zu­schreibung und chro­ni­fi­zierten Psych­ia­tri­sierung von Kindern/​Jugendlichen hat zuge­nommen, was dazu führen kann, dass eine Rück­führung in Regel­an­gebote deutlich erschwert bis unmöglich wird. Daher sind päd­ago­gische, lebens­feldnahe Unter­stüt­zungs­an­gebote weitaus hilf­reicher und klar erfor­derlich, um im all­tags­nahen Kontext zeitnah und effi­zient durch Fami­li­en­be­gleitung eine nach­haltige gesell­schaft­liche Teilhabe in den schu­li­schen Regel­an­ge­boten zu ermöglichen.

Ein wei­terer wich­tiger Aspekt der zuvor genannten Ent­wicklung ist die bestehende Schul­pflicht der Kinder/​Jugendlichen, dessen Ein­haltung die ori­ginäre Aufgabe der Eltern ist. Den durch Ver­halten der Eltern ver­hin­derten Schul­besuch hat der Gesetz­geber im § 1666 BGB ein­deutig als Kin­des­wohl­ge­fährdung klas­si­fi­ziert, der der Staat in seinem Wäch­teramt ent­spre­chend ent­ge­gen­wirken muss. Dies zu beur­teilen und ggf. not­wendige Schritte – auch mit Ein­griffen in Eltern­rechte – ein­zu­leiten und durch­zu­setzen, ist Aufgabe der Fami­li­en­ge­richte. Hier hat sich die Zusam­men­arbeit mit den unter­schied­lichen Akteur*innen im Land­kreis in den letzten Jahren sehr wei­ter­ent­wi­ckelt. Dies zeigt sich bei­spiels­weise in der regel­mä­ßigen Teil­nahme des Fami­li­en­ge­richts an den Treffen des „Arbeits­kreises Schul­ab­sen­tismus im Land­kreis Böb­lingen“. Staat­liche Hil­fe­leis­tungen sind vor­rangig vor Ein­griffen in das Eltern­recht ein­zu­setzen. Hier kommt TRIAS als auf­su­chende Jugend­hil­fe­leistung mit Spe­zi­al­kennt­nissen im Bereich der schu­li­schen Land­schaft im Land­kreis Böb­lingen und konkret im Umgang mit Schul­ab­sen­tismus eine besondere Bedeutung zu, um genau diese im Ein­zelfall not­wen­digen, pass­ge­nauen Hilfen anbieten zu können. In fami­li­en­ge­richt­lichen Ver­fahren ist regelhaft der Soziale Dienst des Jugend­amtes als sozi­al­päd­ago­gische Fach­be­hörde beteiligt, um eben diesen Such­prozess nach geeig­neten und not­wen­digen Hilfen unter Betei­ligung der Familie zu unter­stützen und ent­spre­chende Hilfen im Ein­zelfall anzu­bieten. Durch die regu­lative Aufgabe des Fami­li­en­ge­richts kommt dieser Instanz eine besondere, quan­ti­tativ und qua­li­tativ in der Praxis zunehmend wichtige Aufgabe zu.

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