Für den Politikbrief “Demokratie braucht junge Menschen” sprach Silke Starke-Uekermann, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit bei der BAG KJS, mit Dr.in Helle Becker. Die Kultur- und Erziehungswissenschaftlerin ist u. a. als wissenschaftliche Autorin, in der Lehre oder als wissenschaftliche Projektbegleitung tätig. Die politische und kulturelle Jugend- und Erwachsenenbildung sowie die internationale/europäische Jugend- und Bildungsarbeit zählen zu ihren Arbeitsschwerpunkten.
Frau Becker, warum ist es aus Ihrer Sicht wichtig, junge Menschen an politischen Prozessen zu beteiligen – und wann sollte diese Beteiligung beginnen?
Politische Partizipation ist ein Grundprinzip unseres demokratischen Gemeinwesens. Sie ist ein Grundwert und auch ein Grundrecht einer jeden Bürgerin oder eines jeden Bürgers, und zwar jeden Alters! Junge Menschen, und das meint auch Kinder, haben eine eigenes Recht darauf, gehört und an den eigenen Angelegenheiten beteiligt zu werden. Das legen in Deutschland die UN-Kinderrechtskonvention und das SGB VIII fest; in der Europäischen Union sind der gleichberechtigte Zugang zu alltäglichen Entscheidungsprozessen und die gleichberechtigte Vertretung junger Menschen bei Wahlen, in gewählten Gremien und anderen Entscheidungsgremien auf allen gesellschaftlichen Ebenen als eines der Europäischen Jugendziele in der EU-Jugendstrategie festgelegt.
Erfahrungen (wie das Projekt „Kinderstube der Demokratie“ mit Vorschulkindern) zeigen, dass auch sehr junge Kinder ihre Angelegenheiten mitbestimmen können. Sie brauchen dafür „nur“ ein geeignetes Setting, Gelegenheiten und Bildungsmöglichkeiten.
Zur Frage des Alters: Auf der Theorieebene ist Mündigkeit, häufig als eine Voraussetzung für Beteiligung genannt, ein dynamisches, lebenslanges Konzept, das bereits für den Säugling zutrifft, der seine Bedürfnisse artikulieren kann. Auch die Debatten um das Wahlalter zeigen, dass die an das Alter geknüpfte Berechtigung kein Naturgesetz ist, sondern gesellschaftlich ausgehandelt wird.
Wie bewerten Sie aktuell Beteiligungsmöglichkeiten junger Menschen in der EU – im Allgemeinen und im Hinblick auf benachteiligte junge Menschen im Besonderen?
Die Möglichkeiten politischer Einflussnahme – so verstehe ich hier Beteiligung – sind jenseits von Wahlen gering. Aktivitäten und Vertretungen auf der zivilgesellschaftlichen Ebene, dazu zähle ich auch das Europäische Jugendforum, haben nur wenig bis gar keinen Einfluss auf allgemeinpolitische Entscheidungen der EU. Zudem ist die Teilnahme an partizipativen Aktivitäten und erst recht an Vertretungen äußerst bedingungsvoll.
Das fängt damit an, dass man Englisch beherrschen und andere kommunikative Fähigkeiten haben sollte. Außerdem braucht man für ein entsprechendes Engagement viel Zeit und ermutigende Unterstützung vom Umfeld, wie Freunde und Familie. Und es hilft, wenn man Erfahrungen damit hat, sich (politisch) einzumischen, d. h. bereit und geübt ist, sich eine Meinung und ein Urteil zu bilden und sich auf demokratischen Wegen zu der Gestaltung von Gemeinwesen und Gesellschaft und Staat zu beteiligen. All das stärkt das Vertrauen in die eigenen Einflussmöglichkeiten und das Gefühl, ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein. Für eine Beteiligung auf europäischer Ebene kommen internationale Erfahrungen mit anderen Jugendlichen, anderen politischen und kulturellen Kontexten als hilfreiche Ressource hinzu. Sie ermutigen zum Umgang mit multiplen Perspektiven und weiten den Blick auf internationale und globale Zusammenhänge.
Insofern versteht sich, dass junge Menschen, die diese Ressourcen nicht haben, auch weniger repräsentiert sind und dadurch benachteiligt werden. (Ich lehne den Begriff „benachteiligte junge Menschen“ ab, weil er als Adjektiv eine defizitäre Zuschreibung und außerdem viel zu ungenau ist. Damit stellt er als negatives Fremd- und Selbstbild oft eine eigene, zusätzliche narrative Hürde dar. Die Benachteiligung, die ich hier meine, betrifft viel mehr Jugendliche als landläufig mit der Bezeichnung gemeint ist. So sind z. B. junge Menschen in Berufsausbildung und Arbeit auch unterrepräsentiert, u. a. weil sie keine Zeit für Engagement haben oder sich dieses nicht zutrauen.)
Wo sehen Sie den größten Handlungsbedarf – und auf wen kommt es an, um Dinge voranzutreiben?
Wir brauchen viel mehr demokratische, politische Beteiligungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche, auf allen Ebenen. Dies ist m. E. vorrangig zu dem Argument, sie müssten lernen, wie Beteiligung geht, oder müssten zunächst Kompetenzen ausbilden, um sich beteiligen zu können. Diese entwickeln sich häufig „by doing“ und dann, wenn Beteiligungsmöglichkeiten mit politischen Bildungsgelegenheiten verbunden sind. Hier kann die Kinder- und Jugendarbeit viel tun! Sie hat – im Gegensatz zur Schule – die funktionale Freiheit, ihre Einrichtung oder Organisation selbst demokratisch zu strukturieren, Kinder und Jugendliche umfangreich an Entscheidungen zu beteiligen und kann zugleich Raum, Settings und Unterstützung bieten, demokratische Beteiligung zu qualifizieren.
Kinder- und Jugendarbeit sollte sich daher auch auf politischer Ebene stärker für Beteiligungsmöglichkeiten einsetzen und diese begleiten. Das gilt auch für die Unterstützung von Kinder- und Jugendbeteiligung Dritter, von der kommunalen bis zur europäischen Ebene. Außerdem brauchen wir eine Stärkung der Internationalen Jugendarbeit. Hier gibt es einen enormen Bedarf, wie die „Zugangsstudie“ zeigen konnte. Von den ca. 63 Prozent interessierten Jugendlichen erreichen wir bisher nur 26 Prozent (vgl. Becker, Helle (2019): Kein Mangel an Interesse. Zugänge Jugendlicher zu Internationaler Jugendarbeit. In: deutsche jugend – Zeitschrift für die Jugendarbeit. 67. Jg., H. 2, S. 201–218).
Gibt es ggf. bereits Strategien und Projekte, die sie für besonders vielversprechend halten?
Genau wie beschrieben: Es ist wichtig, dass sich Kinder- und Jugendarbeit ihrer Verantwortung für demokratische Kinder- und Jugendbeteiligung bewusst wird, diese selbst umsetzt und unterstützt. Wie gut das gehen kann, wenn man das gemeinsam macht, und wie sehr davon Kinder und Jugendliche profizieren können, deren Anliegen normalerweise kaum Gehör finden, konnten wir in unserem Projekt „OPEN – Offene Jugendarbeit und politische Bildung gemeinsam engagiert“ zeigen.
Vielen Dank für das Gespräch.