Monitor Jugend­armut 2022

Interview mit Dr. Stefan Ottersbach

Das Wesent­liche auf einen Blick

Dr. Stefan Ottersbach ist Vor­sit­zender der Bun­des­ar­beits­ge­mein­schaft Katho­lische Jugend­so­zi­al­arbeit und er ist Bun­des­präses des Bundes der Deut­schen Katho­li­schen Jugend (BDKJ).

Das Interview können Sie sich auch hier anhören

Die Kirche hat es not­wen­di­ger­weise mit Men­schen in Armuts­si­tua­tionen zu tun, weil sie von diesen lernen kann. Wenn man es vom Evan­gelium aus sagen will: Wir begegnen Jesus in Armen und Aus­ge­grenzten. Das ist der tiefste Kern, warum Christ*innen sich in diesem Bereich enga­gieren. Und daher, ist es wichtig, dass es so eine Stimme wie die BAG KJS und viele andere, die daran immer wieder erinnern, gibt.

Die Zahlen bleiben besorg­nis­er­regend. Ein Viertel, je nachdem welche Erhebung man nimmt, bis ein Fünftel der Kinder und Jugend­lichen in unserem Land sind von Armut bedroht oder leben armuts­ge­fährdet. Das sind Zahlen, die uns nicht kalt lassen können. Es ist eigentlich ein Skandal, dass das nicht stärker im öffent­lichen Bewusstsein ver­ankert ist.

“Die Zahlen bleiben besorg­nis­er­regend. Ein Skandal, dass das nicht stärker im Bewusstsein ist.”

Herr Dr. Ottersbach: Wo ganz konkret begegnet Ihnen per­sönlich das Thema Jugendarmut? 

Das Thema Jugend­armut begegnet mir ganz all­täglich, wenn ich mit offenen Augen durch die Stadt gehe. In unseren Innen­städten gibt es Jugend­liche, die sich viel draußen auf­halten müssen, ja die woh­nungslos sind und für die ein sicherer Wohnort, ein gutes Zuhause, eine wichtige und auch exis­ten­zielle Frage ist.

Das Thema begegnet mit aber auch bei jungen Men­schen, die am Arbeits­markt nur sehr begrenzte Chancen haben und die aus ver­schie­denen Gründen kaum die Mög­lichkeit haben, ihre indi­vi­du­ellen Bega­bungen und Fähig­keiten in Beruf und Gesell­schaft einzubringen.

Ist das christ­liche Ver­ant­wortung? Ist das die Moti­vation, aus der heraus Sie arbeiten?

Sicher. Wir haben eine gemeinsame Ver­ant­wortung in dieser Gesell­schaft und wir haben daran zu arbeiten, dass keiner zurück­bleibt und dass alle die Mög­lichkeit haben, ihre Bega­bungen einzubringen.

Die Deutsche Bischofs­kon­ferenz hat Jugend­pas­torale Leit­linien ver­ab­schiedet. Würden Sie sagen, die katho­lische Kirche nimmt ihre christ­liche Ver­ant­wortung ernst genug?

Die Leit­linien betonen sehr deutlich, dass die Jugend­pas­toral der Kirche allen Jugend­lichen dient. Damit stellen sich die neuen Leit­linien in wohl­tu­ender Weise in eine Tra­dition. Zuletzt wurde bei der Jugend­synode, die Papst Fran­ziskus in Rom ver­an­staltet hat, betont, dass wirklich alle jungen Men­schen im Blick sein sollen. Und hier in der Bun­des­re­publik hat schon die Würz­burger Synode alle Jugend­lichen adres­siert. Deshalb enga­gieren wir uns als Bun­des­ar­beits­ge­mein­schaft Katho­lische Jugend­so­zi­al­arbeit so stark in diesem The­menfeld. Also: Jugend­pas­toral darf sich nicht auf einen eli­tären kleinen Kreis von “besonders Frommen” beziehen. Die Pas­toral der Kirche muss vielmehr alle jungen Men­schen ohne Aus­nahme im Blick haben, und zwar ins­be­sondere auch die­je­nigen, die von Jugend­armut betroffen sind, die Migra­ti­ons­er­fahrung haben oder die Gewalt erfahren haben. Ich finde es sehr bedeutsam, dass die Bischöfe sich in den Leit­linien zu diesem Auftrag bekennen.

Im zweiten Schritt sind dann aber auch die ent­spre­chenden Angebote zu rea­li­sieren und aus­zu­statten. Daher ist es wichtig, dass wir den Bischöfen sozu­sagen weiter auf die Füße treten und sagen: Wenn ihr eure jugend­pas­to­ralen Angebote kon­zi­piert, dann nehmt eure Leit­linien ernst und führt jugend­pas­torale Angebote nicht eng auf einige wenige Aus­er­wählte, sondern haltet auch die im Blick, die sonst in kirch­lichen Voll­zügen nicht vorkommen.

Und ich will ergänzen, warum das aus meiner Sicht so wichtig ist. Es geht nicht darum, dass die Kirche einfach aus einer guten Absicht heraus handelt. Sie darf nicht pater­na­lis­tisch agieren. Die jugend­pas­to­ralen Doku­mente heben vielmehr hervor, dass die Kirche von Men­schen in Armuts­si­tua­tionen lernen kann. Es handelt sich um eine Beziehung auf Augenhöhe, in der es nicht darum geht, dass die Kirche nur etwas für andere tut, sondern dass sie selbst viel zu lernen hat. Wir brauchen sozu­sagen die anderen, damit wir über­haupt Christ*innen sein können. Wenn man es vom Evan­gelium her sagen will: Wir begegnen Jesus in Men­schen, die mar­gi­na­li­siert und armut­s­er­fahren sind. Das ist der spi­ri­tuelle Kern, warum Christ*innen sich in diesem Bereich enga­gieren. Es geht um den ganzen Men­schen. Und daher ist es wichtig, dass es so eine Stimme wie die BAG KJS und viele andere gibt, die daran immer wieder erinnern.

Und das Ganze wird im besten Fall dann ja auch poli­tisch. Also auch im Koali­ti­ons­vertrag der Bun­des­re­gierung stehen ja Vor­haben in Bezug auf dieses Thema, in Bezug auf Jugend­so­zi­al­arbeit. Welche kon­kreten For­de­rungen würden Sie denn aus Ihrer Position heraus for­mu­lieren, an die Politik gerichtet?

Ja, wie Sie richtig sagen, beruht Katho­lische Jugend­so­zi­al­arbeit auf diesen zwei Säulen. Einer­seits ist sie Teil kirch­licher Jugend­pas­toral, hier liegt ein ganz wich­tiges Moti­va­ti­ons­fun­dament. Und ande­rer­seits bewegen wir uns in dem Bereich der Sozi­al­ge­setz­gebung, also im Bereich der Kinder- und Jugend­hilfe, der Arbeits­för­derung oder der Grund­si­cherung, besser bekannt als Hartz IV.

Ganz konkret aus der unmit­tel­baren Erfahrung der Corona-​Pandemie gesprochen, ist es für die Jugend­so­zi­al­arbeit wichtig, um der Bil­dungs­ge­rech­tigkeit willen, dass Kinder und Jugend­liche, die von Jugend­armut betroffen und bedroht sind, digital gut aus­ge­rüstet werden. Die digitale Teilhabe muss umfassend ermög­licht werden. Das kann man konkret daran fest­machen, dass junge Men­schen in der Corona-​Pandemie ihre Abschlüsse nicht machen konnten, weil ihnen die digi­talen Vor­aus­set­zungen fehlten. Das wissen wir aus ein­zelnen Ein­rich­tungen, Das sind ganz kon­krete Men­schen, denen es an prak­ti­schen Dingen wie End­ge­räten oder Daten­vo­lumen fehlte, um am Home­schooling zu par­ti­zi­pieren. Deshalb fordern wir, dass digitale Teilhabe umfassend ermög­licht werden muss.

Der zweite Bereich betrifft das Thema (Jugend)Wohnen. Wir haben an vielen Orten die Schwie­rigkeit, dass Wohnraum enorm teuer geworden ist. Und natürlich leiden dar­unter vor allem die­je­nigen, die nicht das not­wendige Geld zum Leben haben. Es muss bezahl­baren Wohnraum für junge Men­schen geben, um damit aktiv Woh­nungs­lo­sigkeit zu bekämpfen.

Das sind zwei ganz kon­krete For­de­rungen, die wir als BAG KJS haben, damit konkret etwas gegen Jugend­armut getan wird.

Und ein drittes Stichwort möchte ich noch nennen. Das Thema der Kinder und Jugend­grund­si­cherung. Sie haben ja auf den Koali­ti­ons­vertrag hin­ge­wiesen. Wir sehen drin­genden Bedarf, dass eine Kinder- und Jugend­grund­si­cherung ein­ge­führt wird, die alle Kinder und Jugend­lichen im Blick hat, und die auch höher ist als das Existenzminimum.

Wenn man sich ins­gesamt den Monitor “Jugend­armut in Deutschland” anschaut, muss man fest­stellen: Es gibt eigentlich nicht so richtig was Neues. Die Zahlen bleiben besorg­nis­er­regend. Wenn Sie jetzt mal träumen dürften, Ihre Ide­al­vor­stel­lungen in Bezug auf das große Thema Jugend­armut. Welche Schlag­zeilen würden Sie gerne in fünf Jahren lesen?

Zunächst einmal will ich noch einmal bekräf­tigen, was Sie gerade gesagt haben: Ja, die Zahlen bleiben besorg­nis­er­regend. Das muss man so sagen.

Abhängig von der sta­tis­ti­schen Erfas­sungs­me­thode ist ein Viertel bzw. ein Fünftel der Kinder, Jugend­lichen und jungen Erwach­senen in unserem Land von Armut bedroht oder lebt in Armut. Das sind Zahlen, die uns nicht kalt lassen können. Es ist ein Skandal, dass das nicht stärker im öffent­lichen Bewusstsein ver­ankert ist.

Und wenn Sie jetzt nach einer Headline fragen, würde ich mal pro­vo­kativ sagen: Gibt es nur für reiche Jugend­liche eine starke Zukunft? Oder anders for­mu­liert: Endlich! Auch arme Jugend­liche haben Bildungschancen!

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