Dr. Stefan Ottersbach ist Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit und er ist Bundespräses des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ).
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Die Kirche hat es notwendigerweise mit Menschen in Armutssituationen zu tun, weil sie von diesen lernen kann. Wenn man es vom Evangelium aus sagen will: Wir begegnen Jesus in Armen und Ausgegrenzten. Das ist der tiefste Kern, warum Christ*innen sich in diesem Bereich engagieren. Und daher, ist es wichtig, dass es so eine Stimme wie die BAG KJS und viele andere, die daran immer wieder erinnern, gibt.
Die Zahlen bleiben besorgniserregend. Ein Viertel, je nachdem welche Erhebung man nimmt, bis ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen in unserem Land sind von Armut bedroht oder leben armutsgefährdet. Das sind Zahlen, die uns nicht kalt lassen können. Es ist eigentlich ein Skandal, dass das nicht stärker im öffentlichen Bewusstsein verankert ist.
Herr Dr. Ottersbach: Wo ganz konkret begegnet Ihnen persönlich das Thema Jugendarmut?
Das Thema Jugendarmut begegnet mir ganz alltäglich, wenn ich mit offenen Augen durch die Stadt gehe. In unseren Innenstädten gibt es Jugendliche, die sich viel draußen aufhalten müssen, ja die wohnungslos sind und für die ein sicherer Wohnort, ein gutes Zuhause, eine wichtige und auch existenzielle Frage ist.
Das Thema begegnet mit aber auch bei jungen Menschen, die am Arbeitsmarkt nur sehr begrenzte Chancen haben und die aus verschiedenen Gründen kaum die Möglichkeit haben, ihre individuellen Begabungen und Fähigkeiten in Beruf und Gesellschaft einzubringen.
Ist das christliche Verantwortung? Ist das die Motivation, aus der heraus Sie arbeiten?
Sicher. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung in dieser Gesellschaft und wir haben daran zu arbeiten, dass keiner zurückbleibt und dass alle die Möglichkeit haben, ihre Begabungen einzubringen.
Die Deutsche Bischofskonferenz hat Jugendpastorale Leitlinien verabschiedet. Würden Sie sagen, die katholische Kirche nimmt ihre christliche Verantwortung ernst genug?
Die Leitlinien betonen sehr deutlich, dass die Jugendpastoral der Kirche allen Jugendlichen dient. Damit stellen sich die neuen Leitlinien in wohltuender Weise in eine Tradition. Zuletzt wurde bei der Jugendsynode, die Papst Franziskus in Rom veranstaltet hat, betont, dass wirklich alle jungen Menschen im Blick sein sollen. Und hier in der Bundesrepublik hat schon die Würzburger Synode alle Jugendlichen adressiert. Deshalb engagieren wir uns als Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit so stark in diesem Themenfeld. Also: Jugendpastoral darf sich nicht auf einen elitären kleinen Kreis von “besonders Frommen” beziehen. Die Pastoral der Kirche muss vielmehr alle jungen Menschen ohne Ausnahme im Blick haben, und zwar insbesondere auch diejenigen, die von Jugendarmut betroffen sind, die Migrationserfahrung haben oder die Gewalt erfahren haben. Ich finde es sehr bedeutsam, dass die Bischöfe sich in den Leitlinien zu diesem Auftrag bekennen.
Im zweiten Schritt sind dann aber auch die entsprechenden Angebote zu realisieren und auszustatten. Daher ist es wichtig, dass wir den Bischöfen sozusagen weiter auf die Füße treten und sagen: Wenn ihr eure jugendpastoralen Angebote konzipiert, dann nehmt eure Leitlinien ernst und führt jugendpastorale Angebote nicht eng auf einige wenige Auserwählte, sondern haltet auch die im Blick, die sonst in kirchlichen Vollzügen nicht vorkommen.
Und ich will ergänzen, warum das aus meiner Sicht so wichtig ist. Es geht nicht darum, dass die Kirche einfach aus einer guten Absicht heraus handelt. Sie darf nicht paternalistisch agieren. Die jugendpastoralen Dokumente heben vielmehr hervor, dass die Kirche von Menschen in Armutssituationen lernen kann. Es handelt sich um eine Beziehung auf Augenhöhe, in der es nicht darum geht, dass die Kirche nur etwas für andere tut, sondern dass sie selbst viel zu lernen hat. Wir brauchen sozusagen die anderen, damit wir überhaupt Christ*innen sein können. Wenn man es vom Evangelium her sagen will: Wir begegnen Jesus in Menschen, die marginalisiert und armutserfahren sind. Das ist der spirituelle Kern, warum Christ*innen sich in diesem Bereich engagieren. Es geht um den ganzen Menschen. Und daher ist es wichtig, dass es so eine Stimme wie die BAG KJS und viele andere gibt, die daran immer wieder erinnern.
Und das Ganze wird im besten Fall dann ja auch politisch. Also auch im Koalitionsvertrag der Bundesregierung stehen ja Vorhaben in Bezug auf dieses Thema, in Bezug auf Jugendsozialarbeit. Welche konkreten Forderungen würden Sie denn aus Ihrer Position heraus formulieren, an die Politik gerichtet?
Ja, wie Sie richtig sagen, beruht Katholische Jugendsozialarbeit auf diesen zwei Säulen. Einerseits ist sie Teil kirchlicher Jugendpastoral, hier liegt ein ganz wichtiges Motivationsfundament. Und andererseits bewegen wir uns in dem Bereich der Sozialgesetzgebung, also im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, der Arbeitsförderung oder der Grundsicherung, besser bekannt als Hartz IV.
Ganz konkret aus der unmittelbaren Erfahrung der Corona-Pandemie gesprochen, ist es für die Jugendsozialarbeit wichtig, um der Bildungsgerechtigkeit willen, dass Kinder und Jugendliche, die von Jugendarmut betroffen und bedroht sind, digital gut ausgerüstet werden. Die digitale Teilhabe muss umfassend ermöglicht werden. Das kann man konkret daran festmachen, dass junge Menschen in der Corona-Pandemie ihre Abschlüsse nicht machen konnten, weil ihnen die digitalen Voraussetzungen fehlten. Das wissen wir aus einzelnen Einrichtungen, Das sind ganz konkrete Menschen, denen es an praktischen Dingen wie Endgeräten oder Datenvolumen fehlte, um am Homeschooling zu partizipieren. Deshalb fordern wir, dass digitale Teilhabe umfassend ermöglicht werden muss.
Der zweite Bereich betrifft das Thema (Jugend)Wohnen. Wir haben an vielen Orten die Schwierigkeit, dass Wohnraum enorm teuer geworden ist. Und natürlich leiden darunter vor allem diejenigen, die nicht das notwendige Geld zum Leben haben. Es muss bezahlbaren Wohnraum für junge Menschen geben, um damit aktiv Wohnungslosigkeit zu bekämpfen.
Das sind zwei ganz konkrete Forderungen, die wir als BAG KJS haben, damit konkret etwas gegen Jugendarmut getan wird.
Und ein drittes Stichwort möchte ich noch nennen. Das Thema der Kinder und Jugendgrundsicherung. Sie haben ja auf den Koalitionsvertrag hingewiesen. Wir sehen dringenden Bedarf, dass eine Kinder- und Jugendgrundsicherung eingeführt wird, die alle Kinder und Jugendlichen im Blick hat, und die auch höher ist als das Existenzminimum.
Wenn man sich insgesamt den Monitor “Jugendarmut in Deutschland” anschaut, muss man feststellen: Es gibt eigentlich nicht so richtig was Neues. Die Zahlen bleiben besorgniserregend. Wenn Sie jetzt mal träumen dürften, Ihre Idealvorstellungen in Bezug auf das große Thema Jugendarmut. Welche Schlagzeilen würden Sie gerne in fünf Jahren lesen?
Zunächst einmal will ich noch einmal bekräftigen, was Sie gerade gesagt haben: Ja, die Zahlen bleiben besorgniserregend. Das muss man so sagen.
Abhängig von der statistischen Erfassungsmethode ist ein Viertel bzw. ein Fünftel der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in unserem Land von Armut bedroht oder lebt in Armut. Das sind Zahlen, die uns nicht kalt lassen können. Es ist ein Skandal, dass das nicht stärker im öffentlichen Bewusstsein verankert ist.
Und wenn Sie jetzt nach einer Headline fragen, würde ich mal provokativ sagen: Gibt es nur für reiche Jugendliche eine starke Zukunft? Oder anders formuliert: Endlich! Auch arme Jugendliche haben Bildungschancen!