Monitor Jugend­armut 2022

Interview mit Alex­ander Nöhring

Das Wesent­liche auf einen Blick

Foto: Kai Doering

Alex­ander Nöhring ist Geschäfts­führer beim Zukunfts­forum Familie, dem fami­li­en­po­li­ti­schen Fach­forum der Arbei­ter­wohl­fahrt (AWO).

Das Interview können Sie sich auch hier anhören

Die Bun­des­re­gierung hat sich vor­ge­nommen, in ihrem Koali­ti­ons­vertrag eine Kin­der­grund­si­cherung auf Bun­des­ebene zu ent­wi­ckeln und umzu­setzen. Das heißt, das ist sehr konkret im Moment.
Wir schlagen vor, dass alle pau­schal bemes­senen Leis­tungen, die es im Moment in Deutschland gibt, (das ist das Kin­dergeld, das sind Frei­be­träge im Steu­er­recht, das ist aber auch der Kin­der­zu­schlag, das ist das Sozi­algeld im Hartz IV zum Bei­spiel, Wohn­geld­an­teile auch) das alles zusam­men­ge­zogen wird zu einer Leistung, die pau­schal bemessen ist und die dann pro Monat und Kind aus­ge­zahlt wird.

Wir brauchen eine bessere finan­zielle Aus­stattung in den Haus­halten, in denen Kinder und Jugend­liche auf­wachsen, in den armen Haus­halten. Etwa zwanzig Prozent erlebt all­täglich, was es heißt, abge­hängt zu sein vom Rest der Gesell­schaft. Wir brauchen aber auch die beglei­tende Infrastruktur. 

Ich würde das Thema Kin­der­armut oder Armut am liebsten über­haupt nicht mehr in der Zeitung lesen wollen. Denn das ist ein Phä­nomen, das wir bekämpfen müssen. Und dann soll es bitte ver­schwinden. Und am besten ist es in fünf Jahren verschwunden.

“Etwa zwanzig Prozent erlebt all­täglich, was es heißt, abge­hängt zu sein vom Rest der Gesellschaft ”

Viel­leicht können Sie uns vorab erst mal kurz erklären, was über­haupt hinter dem Thema Kin­der­grund­si­cherung steckt. In Deutschland werden ja gerade mehrere Modelle der Grund­si­cherung dis­ku­tiert. Viel­leicht erklären Sie uns: Was ist das über­haupt? Auch ein bisschen in Abgrenzung zum Kin­dergeld, das wir ja alle kennen.

Alex­ander Nöhring: Ich würde gerne anfangen so ein bisschen im Vorfeld der Kin­der­grund­si­cherung, um die Idee der Kin­der­grund­si­cherung in vollem Umfang erklären zu können. Im Moment sieht Fami­li­en­för­derung oder monetäre finan­zielle Fami­li­en­för­derung in Deutschland so aus, dass sie ihren Kern im Steu­er­recht hat. Also in Deutschland ent­lasten wir vor allen Dingen Eltern über die Steuer für Kosten, die ent­stehen, wenn sie Kinder haben und wenn sie Kinder erziehen. Das ist auch alles ganz gut und richtig so, aber in der Steuer ist es eben so: Ich kann Men­schen umso mehr ent­lasten in der Steuer, je mehr Steuern sie zahlen. Das heißt, die höchste Ent­lastung geht dahin, wo die meisten Steuern gezahlt werden, sprich, auch die höchsten Ein­kommen erzielt werden. Und das ist so eine Schieflage, die wir seit vielen Jahren kri­ti­sieren und sagen: Eigentlich muss die höchste För­derung dahin gehen, wo das meiste Geld gebraucht wird, also wo der höchste Unter­stüt­zungs­bedarf ist. Aus­gehend von dieser Kritik haben wir als Zukunfts­forum Familie zusammen mit anderen Ver­bänden vor zwölf Jahren ein Bündnis für eine Kin­der­grund­si­cherung ins Leben gerufen. Und haben uns dieser Kritik ange­nommen und haben gesagt, wir brauchen eigentlich ein System, was hier die Leistung oder die För­derung von Kindern und Familien vom Kopf auf die Füße stellt, das heißt vom Kind aus denkt und von Bedarf her kommt und nicht vom Ein­kommen her kommt und sagt: Wir fördern hier besser, wenn jemand in einem Haushalt lebt, wo höhere Ein­kommen erzielt werden.
Wir schlagen vor, dass alle pau­schal bemes­senen Leis­tungen, die es im Moment in Deutschland gibt, (das ist das Kin­dergeld, das sind Frei­be­träge im Steu­er­recht, das ist aber auch der Kin­der­zu­schlag, das ist das Sozi­algeld im Hartz IV zum Bei­spiel, Wohn­geld­an­teile auch) das alles zusam­men­ge­zogen wird zu einer Leistung, die pau­schal bemessen ist und die dann pro Monat und Kind aus­ge­zahlt wird.

Und wir ori­en­tieren uns da an der Höhe, die sozu­sagen diese Frei­stellung im Steu­er­recht aus­macht. Das sind 699 € pro Kind und Monat im Moment. Das ist das, was steu­erlich frei­ge­stellt wird vom zu ver­steu­ernden Ein­kommen. Und wir sagen, das muss eigentlich als Exis­tenz­mi­nimum jedem Kind zur Ver­fügung stehen und nicht nur den Kindern in den wohl­ha­benden Haus­halten. Und weil aber natürlich Eltern auch Ein­kommen erzielen, schlagen wir nicht vor, dass alle Kinder in Deutschland oder für alle Kinder in Deutschland 699 € pro Monat aus­ge­zahlt werden, sondern dass mit stei­gendem Ein­kommen das immer weniger wird, dass wir also eine sozial gerechte Ver­teilung haben. Aber für die Ärmsten in den ärmsten Haus­halten, da sollten 699 € pro Kind ankommen.
Und das erklärt sozu­sagen auch ein stückweit den Unter­schied zum Kin­dergeld. Das Kin­dergeld ist in Teilen eben ein Teil dieses Steu­er­systems. Wir würden sagen: Alles rein in die Kin­der­grund­si­cherung, alles raus aus den anderen Sys­temen, eigen­ständig, also den eigenen Rechts­an­spruch für Kinder und Jugend­liche. Das kann auf das Konto der Eltern über­wiesen werden, aber ein eigener Rechts­an­spruch, um da auch keine blöden Ver­rech­nungen mit anderen Leis­tungen der Eltern zu haben und ein­kom­mens­ab­hängig aus­ge­staltet. Das soll die Kin­der­grund­si­cherung anders machen: ziel­ge­nauer, ziel­ge­rich­teter und eben vom Kopf auf die Füße.

Ihr großes Thema ist die Teilhabe. Sie haben das mal sehr schön gesagt: Nicht nur satt und sauber, sondern Teilhabe ist wichtig. Können Sie viel­leicht mal erklären, was konkret das mit jungen Men­schen macht, wenn sie in Armut oder in Armuts­ge­fährdung groß werden und eben keine Teilhabe möglich ist? Was konkret fehlt diesen Menschen?

Alex­ander Nöhring: Es gibt eine ganze Reihe von Unter­su­chungen schon, also qua­li­tative Inter­views, Unter­su­chungen, aber auch sta­tis­tische Erhe­bungen, wie Auf­wachsen in Armut in Deutschland aus­sieht. Und Armut in Deutschland ist in den sel­tensten Fällen eine absolute Armut, das heißt eine Armut, wo Kinder/​Jugendliche nicht genügend zu essen haben. Auch das gibt es, das gibt es jetzt gerade in der Infla­ti­ons­krise immer mehr. Aber das ist eher ein klei­neres Phä­nomen in Deutschland. Das größere Phä­nomen ist, dass die Teilhabe ver­ringert ist, das heißt, im Ver­gleich zu anderen, die mit ihnen gemeinsam auf­wachsen, sind die Lebens­chancen, ist auch die Teilhabe am gesell­schaft­lichen Leben, an den gleichen Akti­vi­täten ein­ge­schränkt. Also wir wissen zum Bei­spiel aus einer Lang­zeit­studie, die über 25 Jahre an Kindern, Jugend­lichen und jungen Erwach­senen begleitend beforscht hat, dass armuts­be­troffene Kinder und Jugend­liche kleinere Freun­des­kreise ten­den­ziell haben, dass sie ein höheres Risiko haben für gesund­heit­liche Ein­schrän­kungen auch in der psy­chi­schen Gesundheit, ein gerin­geres Selbst­wert­gefühl, aber auch kör­per­liche Ein­schrän­kungen wie schlechtere Zahngesundheit,dass sie ten­den­ziell geringere Bil­dungs­ab­schlüsse haben oder größere Schwie­rig­keiten beim Übergang schon in die Grund­schule, von der Grund­schule in die wei­ter­füh­rende Schule. Dass sie nicht in gleichem Maße gefördert werden, dass sie sel­tener im Sport­verein sind, dass sie sel­tener Kin­der­ge­burtstag feiern oder auch später Geburtstag feiern, weil die Wohn­ver­hält­nisse das nicht her­geben, dass sie in schlech­teren Wohn­ver­hält­nissen auf­wachsen. Das hat dann auch ganz große Aus­wir­kungen auf das ganze Thema Bewegung. Bewegung in der Freizeit, dass sie sel­tener in den Urlaub fahren. Und das zusätzlich Schlimme ist auch, dass arme Kinder und Jugend­liche eigentlich, das wissen wir auch sehr genau, um diese Situation wissen oder schon sehr früh wissen, wie die öko­no­mische Situation ihres Eltern­hauses ist. Dass sie sich auch ver­gleichen natürlich mit Gleich­alt­rigen und hier sehr früh eigentlich auch schon ver­suchen, Ver­ant­wortung zu über­nehmen an Stellen, die wir ihnen kin­der­psy­cho­lo­gisch über­haupt nicht auf­bürden wollen. Also dass sie sagen: Ich spare schon an meinem Taschengeld, weil meine Eltern sollen nicht so viel für mich aus­geben müssen.

Und da ist man dann relativ schnell natürlich auch bei den Zahlen, die zum Bei­spiel sagen, dass ein Drittel der Kinder und Jugend­lichen, die in Armut oder Armuts­ge­fährdung groß werden, dass die auch später im Erwach­se­nen­alter quasi an dieser Stelle bleiben.
Wie kann denn eine Grund­si­cherung davor bewahren, dass junge Men­schen dann viel­leicht später nahtlos ins Bür­gergeld rüber rutschen?

Alex­ander Nöhring: Man muss natürlich vor­aus­schicken: Geld ist nicht alles. Armut fängt mit man­gelndem Geld an, das Raus­kommen aus der Armut hört da aber nicht auf. Und das ist nicht nur ein Armuts­problem. Wir brauchen immer eigentlich beides: Wir brauchen eine bessere finan­zielle Aus­stattung in den Haus­halten, in denen Kinder und Jugend­liche auf­wachsen, in den armen Haus­halten. Etwa 20 % erleben all­täglich, was es heißt, abge­hängt zu sein vom Rest der Gesell­schaft. Wir brauchen aber auch die beglei­tende Infra­struktur. Also das ist immer so grob zusam­men­ge­fasst unter diesem Begriff Infra­struktur, das meint die Schule und die Kita und den Hort, aber auch den Jugendclub, die offene Kinder- und Jugend­arbeit. Da braucht es die Schul­so­zi­al­arbeit, da braucht es Insti­tu­tionen und Struk­turen, die Kinder und Jugend­liche und junge Erwachsene gut an die Hand nehmen und sie ins Leben begleiten. Also auch da sehen wir aus einer ganzen Reihe von Unter­su­chungen, dass selbst Kinder und Jugend­liche die armuts­be­troffen auf­wachsen, wenn die im Jugend­alter noch mal so etwas wie eine hel­fende Hand haben, also einen Lehrer, der sich ganz besonders kümmert, oder die Sozi­al­ar­bei­terin, die da ist und die unter­stützt und die auch noch mal Wege auf­zeigt, wie es gelingen kann, im Auf­wachsen trotzdem teil­zu­haben. Also wenn es diese Person gibt, dann gelingt eigentlich auch die spätere Phase der Ver­selbst­stän­digung ein­facher und besser. Das Problem ist nur, dass die Jugend­lichen auf Zufälle ange­wiesen sind, dass eben diese Person gerade da ist. Und in den aller­meisten Fällen ist diese Person nicht da. Ein Drittel, Sie haben es gesagt, ein Drittel die im Kindes und Jugend­alter arm sind, sind auch später arm. Und auch die anderen schaffen es nicht auto­ma­tisch in andere öko­no­mische Ver­hält­nisse. Also Armut ist ein Dauerzustand.

Wenn wir jetzt zum Abschluss in die Zukunft gucken: Wie weit ist man denn mit dem Thema Grund­si­cherung? Also die Arbeits- und Sozi­al­mi­nis­ter­kon­ferenz hat einen Mehr­heits­be­schluss zu diesem Thema. Sie fordern jetzt die Bun­des­re­gierung auf, da weiter dran zu bleiben, nächste Schritte ein­zu­leiten. Wie weit ist man?

Andreas Nöhring: Die Bun­des­re­gierung hat sich vor­ge­nommen, in ihrem Koali­ti­ons­vertrag eine Kin­der­grund­si­cherung auf Bun­des­ebene zu ent­wi­ckeln und umzu­setzen. Was heißt das konkret im Moment? Unter Feder­führung des Bun­des­fa­mi­li­en­mi­nis­te­riums arbeitet die Bun­des­re­gierung in einer inter­mi­nis­te­ri­ellen Arbeits­gruppe daran, eine Kin­der­grund­si­cherung Wirk­lichkeit werden zu lassen. Das ist ja ein relativ kom­plexer Prozess. Es braucht die Finanz­po­litik, es braucht die Arbeits- und Sozi­al­po­litik vor allen Dingen, es braucht die Woh­nungs­po­litik. Es braucht die Fami­li­en­po­litik mit ihren Leis­tungen. Es ist ein kom­plexer Prozess, da ist man dran. Und 2025 soll die Kin­der­grund­si­cherung Wirk­lichkeit werden. Wie sie dann genau aus­sieht, wissen wir noch nicht. Und da steckt natürlich der Teufel im Detail. Als Bündnis Kin­der­grund­si­cherung haben wir sehr weit­rei­chende For­de­rungen, und wir werden dann eben sehr genau prüfen, was die Bun­des­re­gierung vorlegt und wie bereit sie ist, vor allen Dingen das, was ich ein­gangs sagte, auch dieses Steu­er­thema mit einzubeziehen.

Bei uns liegt eben neben der Armuts­be­kämpfung eine der großen sozialen Schief­lagen in diesem ungleichen För­der­system. Kin­dergeld oder Hartz IV auf der einen Seite und große Steu­er­frei­be­träge auf der anderen Seite. Im Moment sehen wir eher, dass Steu­er­frei­be­träge noch aus­ge­weitet werden. Wir müssen mal schauen, was da 2025 kommt. Für junge Erwachsene ist es so, dass jetzt mit einer BAföG-Reform schon das Thema Aus­bil­dungs­för­derung im Bereich des BAföG ver­bessert wird und beim Bür­gergeld brauchen wir natürlich auch Ver­bes­se­rungen, was die Ver­selb­stän­digung für das Wohnen betrifft. Also dass junge Men­schen auch aus einer Bedarfs­ge­mein­schaft aus­ziehen können und da sich auch ver­selbst­stän­digen können. Da muss noch ein bisschen nach­ge­bessert werden. Es gibt Schritte, aber da muss noch deutlich nach­ge­bessert werden.

Ein Stichwort noch: Im Moment sehen wir natürlich relativ aktuell die Folgen von Corona. Wir sehen jetzt den wach­senden Preis­druck durch die Inflation zur Ener­gie­krise. Da sagen wir auch: Da muss auch zum Bei­spiel in den Höhen, beim Bür­gergeld noch mal deutlich nach­gelegt werden, um auch nur annä­hernd das auf­zu­fangen, was da an Preis­druck auch auf junge Men­schen zu kommt.

Jetzt träumen wir in diesem Jahr ein bisschen beim Monitor „Jugend­armut in Deutschland“. Deshalb auch die Frage an Sie: Wenn Sie mal über­legen in fünf Jahren, was gibt es für Schlag­zeilen, die Sie in Bezug auf dieses Thema gerne in der Zeitung lesen würden?

Andreas Nöhring: In fünf Jahren also. Wenn Sie mich so fragen, würde ich sagen, ich würde das Thema Kin­der­armut oder Armut am liebsten über­haupt nicht mehr in der Zeitung lesen wollen. Denn das ist ein Phä­nomen, das wir bekämpfen müssen. Und dann soll es bitte ver­schwinden. Und am besten ist es in fünf Jahren verschwunden.

Sie möchten, dass sich Ihr Job erübrigt?

Andreas Nöhring: Ja genau, ich möchte an der Selb­st­ab­schaffung meiner Aufgabe arbeiten.
Wenn Sie jetzt sagen, es geht um Schlag­zeilen in der Zeitung, dann würde ich mir so was wün­schen wie zum Bei­spiel:
In diesem Jahr hat keine Schü­lerin, kein Schüler die Schule ohne Schul­ab­schluss ver­lassen. Was haben wir in fünf Jahren? 2027. Mehr Auszüge junger Men­schen als noch vor fünf Jahren. Also, dass wir positive Ent­wicklung beob­achten können. Das, ja, das würde ich mir wün­schen, die einfach ein Aus­druck dessen sind, dass Kinder und Jugend­armut kein Thema ist.

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