Monitor Jugend­armut 2022

Interview mit Prof. Marcel Fratzscher

Das Wesent­liche auf einen Blick

Prof. Marcel Fratz­scher Ph.D., Prä­sident DIW Berlin. © DIW/B.Dietel

Pro­fessor Marcel Fratz­scher ist Ökonom, Wirt­schafts­wis­sen­schaftler und er leitet das Deutsche Institut für Wirt­schafts­for­schung in Berlin.

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Ein Euro, den Sie in eine 14-​jährige inves­tieren, ist deutlich besser als dieser eine Euro, den Sie dann in diese gleiche Frau inves­tieren, wenn sie 24 oder 34 ist.

Wir brauchen in Bezug auf Kinder und Jugend­liche ganz dringend die Kin­der­grund­si­cherung. Um also die finan­zielle Ver­sorgung von Kindern und Jugend­lichen auf bessere, nach­hal­tigere Füße zu stellen. Das hat die Bun­des­re­gierung ver­sprochen.
Ich hoffe, dass sie das schnell, groß­zügig und klug umsetzen wird.

“Jugend­armut kostet den Staat später Milliarden”

Pro­fessor Fratz­scher, das Thema Jugend­armut, was bedeutet das aus volks­wirt­schaft­licher Sicht? 

Prof. Marcel Fratz­scher: Rein wirt­schaftlich gesehen bedeutet Jugend­armut, dass uns als Gesell­schaft ein rie­siges Potenzial entgeht. Denn es geht um junge Men­schen, die durch Armut in sehr frühen Jahren ihrer Chancen im gesamten Leben beraubt werden. Viele von diesen Men­schen werden später im Erwach­se­nen­leben arbeitslos oder sie werden wenig Qua­li­fi­ka­tionen haben. Auch gesund­heitlich sehen wir, dass diese Men­schen öfter Pro­bleme haben, dass sie eine kürzere Lebens­er­wartung haben. Und so bean­spruchen sie den Sozi­al­staat viel stärker, als Men­schen, die eben nicht in Armut aufwachsen.

So entgeht uns ein Potenzial und es ent­stehen uns auch riesige wirt­schaft­liche Kosten. Ich will damit sagen: Kin­der­armut oder Jugend­armut ist nicht ein Thema, dass “nur” die Men­schen betrifft, die dar­unter leiden, sondern es richtet einen rie­sigen wirt­schaft­lichen und sozialen Schaden für uns als Gesell­schaft an.

Das heißt der Staat sollte jetzt einen Euro in die Hand nehmen, damit man ihn später nicht aus­geben muss? 

Prof. Marcel Fratz­scher: Je früher die Gesell­schaft in Men­schen inves­tiert, desto besser ist es. Und das zeigen viele wis­sen­schaft­liche Studien. Ein Euro, der im früh­kind­lichen Bereich, also in den ersten sechs Jahren, in einen jungen Men­schen inves­tiert wird, zahlt sich später aus. Ein Euro, den Sie in eine 14-​jährige inves­tieren, ist deutlich besser als dieser eine Euro, den Sie inves­tieren, wenn die Frau 24 oder 34 ist.
Deshalb sind das auch keine Schulden, sondern es sind Inves­ti­tionen in Men­schen. Und wir inves­tieren in Deutschland viel zu wenig in Men­schen. 
Wir hinken gerade bei den Inves­ti­tionen in Bildung weit hin­terher. Für mich ist das größte Manko die feh­lende Chan­cen­gleichheit. Jungen Men­schen ist oft sehr früh schon vor­be­stimmt, was aus ihnen wird. 

Die Infla­ti­ons­krise befeuert diese Ungleichheit aktuell. Warum? 

Prof. Marcel Fratz­scher: Schon durch die Pan­demie ist die Schere im Bil­dungs­be­reich weiter auf­ge­gangen. Und jetzt im Krieg sehen wir, dass Men­schen mit geringen Ein­kommen eine viel höhere Inflation erfahren. Men­schen mit wenig Ein­kommen müssen einen viel höheren Anteil ihres Ein­kommens monatlich für die Dinge aus­geben, die jetzt besonders teuer geworden sind — Energie und Lebens­mittel.
Wir haben bei uns am DIW (Deut­schen Institut für Wirt­schafts­for­schung) in Berlin berechnet, dass Men­schen mit geringen Ein­kommen alleine bei der Energie eine drei- bis viermal höhere Inflation erfahren als Men­schen mit sehr hohen Ein­kommen. Und das Problem ist zudem, dass 40 Prozent der Men­schen in Deutschland keine Erspar­nisse haben. Das bedeutet sie können nicht auf Rück­lagen zugreifen, um die 300 bis 400 Euro mehr für den Lebens­un­terhalt aufzufangen.

Wir sprechen hier nicht über eine kleine Gruppe, sondern das geht weit in die Mitte der Gesell­schaft hinein.

Trifft das die jüngere Gene­ration im Besonderen? 

Prof. Marcel Fratz­scher: Jugend­liche und Kinder sind die vul­nerabelste Gruppe, die sich gegen Krisen am wenigsten gut schützen kann. Und daher ist meine Sorge, dass mit der Pan­demie und vor allem jetzt mit dem Krieg die soziale Schere, aber auch die Schere über Gene­ra­tionen hinweg, weiter aufgeht.

Gleich­zeitig gibt es aktuell ein riesen Steu­erplus. Ist das eine gute Nach­richt, dass mehr Geld in den Kassen ist? 

Prof. Marcel Fratz­scher: Es sollte eigentlich in Kri­sen­zeiten irrelevant sein, wieviel Geld der Staat in seinen Kassen hat. Der deutsche Staat hat alle Mög­lich­keiten, um jeg­liche not­wen­digen Aus­gaben zum Schutz von Men­schen und Unter­nehmen in dieser Krise zu tätigen. Da gibt es kein Limit und keine Begrenzung. Das muss man sich wirklich bewusst machen: Der deutsche Staat hat 350 Mil­li­arden Euro in der Pan­demie für Unter­nehmen aus­ge­geben, um sie zu sta­bi­li­sieren. Ohne Pro­bleme kann er solche Summen auch in dieser Krise aus­geben und er sollte das auch tun. Denn wenn man jetzt nicht aus­rei­chend Schutz bietet für die ver­letz­lichsten Men­schen, dann ist der Schaden später viel größer. Wenn wir jetzt klug in Men­schen inves­tieren, dann hilft das den betrof­fenen Men­schen, aber auch uns als Gesell­schaft und unserer Wirt­schaft. So können wir lang­fristig leis­tungs­fä­higer sein und unser gesamt­wirt­schaft­liches Potenzial besser nutzen.
Wo weniger Men­schen ver­loren gehen, oder in gesund­heit­liche Pro­bleme kommen, ohne Qua­li­fi­kation von der Schule abgehen, dort sind mehr Men­schen, die Arbeit finden und sich einbringen. 

Welche Schritte wären aus öko­no­mi­scher Sicht jetzt richtig? 

Prof. Marcel Fratz­scher: Wir brauchen ganz dringend die Kin­der­grund­si­cherung, um die finan­zielle Ver­sorgung von Kindern und Jugend­lichen auf bessere und nach­hal­tigere Füße zu stellen. Das hat die Bun­des­re­gierung ver­sprochen. Ich hoffe, dass sie das schnell, groß­zügig und klug umsetzen wird.
Zweitens brauchen wir massive Inves­ti­tionen in Bildung, in Aus­bildung und Qua­li­fi­zierung.
Wir haben immer noch 40.000 bis 50.000 junge Men­schen jedes Jahr, die ohne Schul­ab­schluss abgehen. Und das kor­re­liert stark mit Armut oder Armuts­ge­fährdung.
Denn deren Weg ist in vielen Fällen vor­ge­zeichnet. Wir haben 75.000 junge Men­schen, die aktuell ohne Aus­bil­dungs­platz dastehen und die, wenn sie keine Aus­bildung machen können, keine Chancen haben. Die Gefahr, dass sie auch als Erwachsene in eine Armuts­ge­fährdung rut­schen, ist sehr hoch.
Wir brauchen also eine Kin­der­grund­si­cherung, massive Inves­ti­tionen in Bildung, Qua­li­fi­zierung und viel stärkere Inves­tition in Gesundheit. Denn da haben junge Men­schen besonders stark gelitten in der Pandemie.

Der CDU Poli­tiker Carsten Lin­nemann würde in dem Zusam­menhang jetzt von einer “Voll­kas­ko­men­ta­lität” sprechen und würde sagen, es wird sich viel zu sehr auf den Staat ver­lassen. Was ent­gegnen Sie dem, wenn er sagt: “Sollte nicht lieber jeder selbst die Ärmel hoch­krempeln und aktiv werden?” 

Prof. Marcel Fratz­scher: Für junge Men­schen sollte es eine Voll­kas­ko­men­ta­lität geben. Das ist die Aufgabe der Gesell­schaft in einer sozialen Markt­wirt­schaft. Wie wollen Sie denn einer 12-​jährigen oder einer 15-​jährigen sagen: Jetzt verlass dich mal nicht auf die Voll­kas­ko­men­ta­lität und mach mal? Der deutsche Staat scheitert daran allen jungen Men­schen die gleichen Chancen zu geben.

Für mich geht es hier um Chan­cen­gleichheit, dass jeder junge Mensch die exakt gleiche Mög­lichkeit hat, ihre oder seine Poten­ziale, Fähig­keiten, Wünsche, Träume zu rea­li­sieren. Und das besteht heute in Deutschland weniger als in den meisten anderen west­lichen Ländern. Wenn man auf Erwachsene schaut: In Kri­sen­zeiten ist es Aufgabe von uns als Gesell­schaft, also vom Staat, die ver­letz­lichsten Men­schen zu schützen.
Und meine Antwort auf Carsten Lin­nemann, den ich sonst schätze, dem ich hier aber ent­schieden wider­spreche, ist: Wir wissen aus vielen wis­sen­schaft­lichen Studien, dass Gesell­schaften, die in Kri­sen­zeiten hoch soli­da­risch sind, diese deutlich besser bewerk­stel­ligen.
Ich glaube, das ist eine Stärke, die wir mit der sozialen Markt­wirt­schaft haben und die sollten wir jetzt nicht über Bord werfen.

Sie waren viel und oft im Ausland unterwegs. Das heißt, Sie haben eine Außen­per­spektive auf Deutschland. Sie sagen: ganz viele Indus­trie­na­tionen haben gerade diese Pro­ble­matik. Würden Sie sagen, das ist ein Thema, was man auch viel mehr gemeinsam bear­beiten müsste? 

Prof. Marcel Fratz­scher: Wir müssen erstens die Glo­ba­li­sierung, also die globale Wirt­schaft, neu gestalten, damit eben nicht nur einige wenige davon pro­fi­tieren, sondern alle Men­schen mit­ge­nommen werden.
Wir brauchen zweitens viel mehr Chan­cen­gleichheit, also Auf­stiegs­chancen. Übrigens ist das in Deutschland einer der Schwach­punkte. Es gibt kaum ein Land, in dem die soziale Mobi­lität so gering ist, also wo die Chancen im Erwach­se­nen­leben so stark von Ein­kommen und Bil­dungsgrad der Eltern abhängen.
Deutschland steht in manchen Bereichen besser da, in anderen schlechter, und alle haben eigentlich sehr ähn­liche Probleme.

Wenn Sie träumen dürften, fünf Jahre in die Zukunft. Dann sind wir im Jahr 2027. Was würden Sie zum Thema Kinder- und Jugend­armut in fünf Jahren gerne in der Zeitung lesen? 

Prof. Marcel Fratz­scher: Wenn ich träumen dürfte, dann ist eine Headline “Jugend­armut hat sich mehr als hal­biert”. Sie liegt nicht mehr bei 20 Prozent, oder knapp 20 Prozent, sondern bei unter 10 Prozent. Oder: “Die Kinder- und Jugend­ar­muts­ge­fährdung ist nied­riger als die von Erwach­senen”. Und eine dritte Headline wäre: “Es gibt eine starke Kin­der­grund­si­cherung, die wirklich sicher­stellt, dass kein Kind zurück­bleibt”.
Gerne lesen würde ich auch: “Das Bil­dungs­system ver­bessert sich”. Die Auf­stiegs­chancen für Kinder aus ein­kom­mens­schwachen, bil­dungs­fer­neren Familien haben sich deutlich ver­bessert. Es gibt prak­tisch keine Schul­ab­gänger mehr, die ohne Schul­ab­schluss abgehen. Es gibt nie­manden, keinen jungen Men­schen, der nicht einen Aus­bil­dungs­platz bekommt. Und viel­leicht noch eine Headline: “Deutschland hat das Lebens­chan­cenerbe ein­ge­führt”, bei dem jeder junge Mensch nach dem Abschluss des ersten Berufs­ab­schlusses mit 21 Jahren 30.000 Euro vom Staat bekommt, um sein Leben besser in die eigenen Hände nehmen zu können und um Träume zu rea­li­sieren, um sich selbst­ständig zu machen, um sich wei­ter­zu­bilden im Laufe ihres Erwach­se­nen­lebens.
Das werden jetzt mal ein paar Head­lines und ich könnte es wahr­scheinlich noch ein bisschen fortsetzen.

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