Monitor Jugend­armut 2022

“Ich hatte es nicht leicht” – Angelique

Eins von 4,17 Mil­lionen Gesichtern

Mit vier im Kin­derheim – jetzt Woh­nungslos.
Und mit dem Wunsch, Alten­pfle­gerin zu werden.

“Ich glaube ich war 4, als ich zum ersten Mal ins Kin­derheim kam“, erzählt Ange­lique und fügt hastig hinzu: „Aber meine Mama hat alles gemacht was sie konnte, es hat nur einfach nicht funk­tio­niert mir uns”.

Lange hat die heute 18-​Jährige mit sich gerungen, ob sie ihre Geschichte öffentlich erzählen soll. Ange­lique ist auf­geregt. Streicht sich immer wieder ihre langen blonden Haare aus dem Gesicht und nimmt noch einen Schluck Wasser. „Ich möchte nicht, dass die Men­schen schlecht über meine Familie denken“, erklärt sie. Ande­rer­seits ist ihr wichtig zu sagen: “Ich hatte es nicht leicht”.

Die heute 18-​Jährige pen­delte in ihrer Kindheit und Jugend viele Jahre zwi­schen Heimen und ihrem Zuhause. Heute lebt sie abwech­selnd bei ihrer Tante und ihrem Freund — damit gilt sie als woh­nungslos. “Einmal die Woche muss ich zur Lin­den­allee, einer Obdach­lo­sen­stelle, wo ich pos­ta­lisch gemeldet bin,” erklärt Angelique.

Jetzt wo sie voll­jährig ist, möchte sie all das hinter sich lassen und neu anfangen: “Eine eigene Wohnung wäre toll. Dann hätte ich etwas, was mir gehört. Einen bes­seren Schul­ab­schluss viel­leicht, eine Arbeit, ein Auto. Dass alles klappt und dass man nicht immer diese Höhen und Tiefen erleben muss”, sagt sie und blickt auf den Boden.

Höhen und Tiefen gab es im Leben von Ange­lique viele, weiß Michael Koppetz, der sie seit drei Monaten betreut. Er arbeitet als Sozi­al­päd­agoge bei “Rückenwind”, einer Anlauf­stelle für schwer erreichbare Jugend­liche und junge Erwachsene in Essen. “Das Leben von Ange­lique lief alles andere als gerad­linig. Wir möchten sie dabei unter­stützen ihren Platz im Leben zu finden”, erklärt er. Dazu brauche es im ersten Schritt eine finan­zielle Absi­cherung. Im Fall von Ange­lique bedeutet das Hartz IV.
“Sie in den Leis­tungs­bezug zu bringen, war alles andere als einfach. Die büro­kra­ti­schen Mühlen mahlen langsam”, erklärt Koppetz, der zugibt manchmal an der feh­lenden Sen­si­bi­lität behörd­licher Struk­turen zu ver­zweifeln.
Finan­zielle Selbst­stän­digkeit, erklärt er, sei gerade unheimlich wichtig für Ange­lique. Nur so habe sie die nötige Ruhe, um sich und ihren Weg zu finden.
“Wir machen hier einen Schritt nach dem anderen. Soziale Arbeit braucht Zeit“, so Koppetz, der der jungen Frau in erster Linie dabei helfen möchte ihr eigenes Potenzial zu erkennen und in Zukunft Teil der Gesell­schaft und Arbeitswelt zu sein.

“Grund­sätzlich war mein Plan Alten­pfle­gerin zu werden, oder mit kör­perlich ein­ge­schränkten Men­schen zu arbeiten“, erzählt Ange­lique fast eupho­risch, fügt dann aber an, dass sie immer wieder davon höre der Beruf sei “unheimlich hart”. “Jetzt bin ich mir unsicher, ob ich das über­haupt schaffe”.
Aus­sagen dieser Art lassen erahnen welche Spuren Ange­liques bis­he­riges Leben hin­ter­lassen hat. Das ange­knackste Selbst­ver­trauen auf­bauen, die eigene psy­chische Wider­stands­kraft stärken, all das sind Dinge, die die junge Frau jetzt angehen muss, um in der Lage zu sein, eigene Lebens­per­spek­tiven for­mu­lieren zu können. Und natürlich braucht es dafür die finan­zi­ellen Mittel.

Ob sie als Kind Armut erlebt habe? Ange­lique schüttelt den Kopf: “Ich weiß, dass ich nicht alles hatte, Mar­ken­kla­motten zum Bei­spiel“, aber arm sei sie nicht gewesen. “Natürlich möchte man reisen, oder die Welt sehen, Geld für den Füh­rer­schein auf dem Konto haben, weil die Eltern das viel­leicht ange­spart haben.” Doch Geld sei nicht alles, das habe ihre Mama immer gesagt.

Ange­lique hat Glück, denn bisher wurde sie von ihrer Tante und ihrem Freund unter­stützt. “Seit ich Harzt IV bekomme“, erzählt sie “kann ich zumindest auch mal ein­kaufen gehen und was zurück­geben”. Die aktu­ellen Preis­stei­ge­rungen aller­dings machen ihr Angst. Angebote der Tafel, oder auch Lebens­mittel von “Rückenwind” habe sie bisher trotzdem nicht in Anspruch genommen. Sie komme auch so klar.
Viel­leicht, weil das Annehmen von Lebens­mitteln ein zu deut­liches Zeichen der Hilfs­be­dürf­tigkeit wäre? Die 18-​jährige kann sich schon vor­stellen, “dass es Jugend­liche gibt, die diese Hilfe nicht wollen, weil es ihnen peinlich ist”.
Dabei sei es alles, nur nicht peinlich. “Die Men­schen hier machen diesen Beruf ja, um Men­schen wie mir zu helfen”, sagt sie.

Und dann ist das Interview vorbei. “Ich habe bestimmt viel Blödsinn erzählt”, meint Ange­lique und atmet tief durch. Die Erleich­terung, dass das Gespräch geschafft ist, ist ihr anzu­sehen. Ob sie den Artikel vor Erscheinen einmal lesen könne, will sie noch wissen. Nicht, dass sie jemanden in ein schlechtes Licht stelle.
Natürlich kann sie diesen Artikel vor Erscheinen lesen. Und dabei wird sie hof­fentlich fest­stellen, dass sie starke Dinge gesagt hat und dass genau eines beim Lesen hängen bleibt: Ange­lique, du hattest es nicht leicht.

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